Rituale 2

Gespeichert von admin am Mi., 11.02.2015 - 23:04

Der Satz von Immanuel Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ ist zur Grundlage der Aufklärung geworden. In den ersten fünfzig Jahren meines Lebens war er mir als Satz unbekannt, jedoch in seiner Wirklichkeit immer gegenwärtig.

In den letzten Jahren – besonders nachdem ich ihn als Satz kennen gelernt habe – beginnt er mich und mein Sein in der Welt zu polarisieren. Da ich die längste Zeit meines Lebens als Prediger und Redner gearbeitet habe und in diesem Aufgabenbereich immer noch involviert bin, erlebe ich zunehmend, dass sich eine gewisse Kompromisslosigkeit in mir entwickelt. Die Schlussfolgerungen aus den Wirklichkeitserfahrungen meiner Kinderzeit lassen sich nicht mehr so leicht flexibel umgehen.

Diese Schlussfolgerungen sind zweierlei:

Die soziale Gemeinschaft, sprich der Staat, hat mich fast verhungern lassen. Als Entschuldigung wurde mir der verlorene Krieg angeboten.

Die Religion, in die sich meine Mutter flüchtete, unterstützte Hunger und Elend, anstatt zu helfen.

Diese Wirklichkeitserfahrungen meiner Kindheit versuchte ich intensiv wegzudeuten, indem ich mich den politisch-wirtschaftlichen Angeboten einerseits und den religiösen Angeboten andererseits mit aller Kraft intensiv zuwandte.

Mein kindlicher Verstand stolperte jedoch über zwei Begebenheiten meiner Kindheit: Eines Sonntags predigte unser Prediger der Pfingstgemeinde darüber, wo die Seelen der Verstorbenen wohl bis zu der Auferweckung der Toten aufbewahrt würden, von der die Bibel berichtet. Er hätte etwas sehr nachdenkenswertes gelesen, nämlich dass die Seelen der Verstorbenen bis zur Auferstehung auf der Rückseite des Mondes aufbewahrt würden. Das war jedoch zuviel für meine kindliche Glaubenskraft. Das konnte ich nicht glauben.

Etwa 2 Jahre später wurde in Hamburg ein berühmter Prediger beerdigt. Erstmals hatte ich diese Empfindung, als der von mir hochgeschätzter Prediger von etwa tausend Gemeindemitgliedern im mittelalterlichen Ornat mit Pappsäbeln an der Seite von fremden Menschen (Friedhofsträger) zu Grabe getragen wurde. Er war viele Male bei uns zu Hause gewesen. Wir hatten zusammen gegessen und getrunken, gelacht und uns über theologische Fragen durchaus auch kontrovers unterhalten. Jetzt, bei seiner Beerdigung, fiel dieser Freund in eine „fremde ritualisierte Mühle“, die aber auch gar nichts mit seinem Leben zu tun hatte. Ich empfand, dass man die Komplexität des Lebens – hier seines Lebens - mit gleichmachenden Ritualen nicht bearbeiten kann. Ich habe es so empfunden, dass dieses Ritual eine Beleidigung des verstorbenen Menschen und der Trauergemeinschaft war. Ich konnte dennoch sehr lange nicht gegen den Schwall der offiziellen Meinung opponieren und machte – als Pastor und Redner - leider mit.

 

„Rituale gelten, weil sie schon galten – man kann sie nicht erfinden.“ von Ulrich Greiner

(DIE ZEIT N° 24/201422. Juni 2014)

 

Der Philosoph Odo Marquard sagt: „Rituale (wirken) auf Grund ihrer faktischen Geltung, sie gelten, weil sie schon galten.“ Rituale beruhen also auf Tradition, und Tradition beruht auf Dauer.

Ist es intellektuell redlich, dass Menschen sich auf die Aufklärung berufen und mit obigem Kant-Zitat ihr Aufgeklärtsein begründen, und dann mit ihrem Auftrag beim Bestatter ein Ritual bestellen, weil es dieses schon immer gab?

Ulrich Greiner führt weiterhin aus: „Schließlich und vor allem weist es über sich selbst hinaus – sei es auf Gott oder das Göttliche, sei es auf eine überwölbenden Idee wie Menschenrechte oder Ehre und Vaterland. Das Moment der Transzendenz, das dem Ritual wesentlich ist, hebt das Individuum aus seiner Zufälligkeit empor und ordnet es ein in eine höhere Ordnung.“

Ist das Moment der Transzendenz, das dem Ritual wesentlich ist, mit dem eigenen Verstand zu begreifen? - siehe Kant.

Wenn inzwischen durch die fortlaufende Wörterklempnerei der Begriff Transzendenz auf fast alle Erfahrungen des Lebens angewendet werden kann, kann die Transzendenz, die nur subjektiv erfahrbar ist, in Rituale generalisiert werden?

Ist es nicht so, dass wenn Menschen im Ritual transzendente Erfahrungen machen, die Ursache nicht im Ritual, sondern im individuellen Menschen liegt?

Die Religion begreift Paul Tillich als ein Symbol, das Unbedingte (Transzendente) kann sich überall für den Menschen ereignen.

Kann man das Ritual überhaupt mit der Erfahrung von Transzendenz in einen Zusammenhang bringen? Ich habe intensiv etwa 1 Jahr lang Freimaurer befragt, welche Transzendenzerfahrungen sie bei ihren Ritualen machen. Man verstand meine Fragen überhaupt nicht.

Jeshajahu Leibowitz wird gefragt: „Befinden Sie sich manchmal in einer solchen Situation, dass sie Gott ihr Herz ausschütten möchten?“

„Natürlich nicht! Ich gehe in die Synagoge, um das Gebetsgebot zu erfüllen und nicht um emotionalen Sport zu betreiben!“ (Gespräche über Gott und die Welt, 1994)

 

Noch einmal Ulrich Greiner:

Das Ritual hebt das Individuum aus seiner Zufälligkeit empor und ordnet es ein in eine höhere Ordnung.“

 

In welche „höhere Ordnung?“

Gibt es überhaupt eine „höhere Ordnung“ außerhalb der Behauptungen der Religionen und Nationalsozialisten? Wir in Deutschland haben entsetzlich unter dem „höheren Menschentum“ der letzten zwei Jahrhunderte gelitten. Ist dieser „Virus“ des „höheren Menschentums“, den wir den Kolonial- und unseren Nachbarvölkern mit vielfachem Mord versucht haben beizubringen, immer noch nicht ausgerottet?

Woher nehmen wir die kranken Ideen, dass außerhalb der Zufälligkeit unseres Lebens eine höhere Ordnung besteht? Ulrich Greiners gedanklicher Ausgangspunkt sind die Phantasien der Religionen und Nationalsozialisten. Ich bezeichne mich als Freier Redner und kann es nicht verantworten solche kranken Ideen zu übernehmen und zu praktizieren.

 

So leb dein Leben

 

Mein Freund- einmal, da fällt doch auch für dich der letzte Vorhang.

Du gehst von dieser Welt und dann kommst du an jenem Tor an.

Du weißt, dein Lebensweg war manchmal krumm und manchmal eben

Das du dann gradsteh`n kannst, so leb` dein Leben.

 

Dass du dann sagen kannst, ich hab` getan was manchmal sein muss.

Ich hab` geliebt, getanzt, es ist nicht viel, was ich bereu`n muss.

Ich nahm, was mein war, doch ich hielt die Hand auf auch zum Geben.

Dass du dann sagen kannst, so leb` dein Leben.

 

Ich weiß, es gab so manches Mal nach einem Hoch manches tiefe Tal.

Ich hab` sooft umsonst gehofft, ich hab`s gefühlt und hab es doch verspielt,

hab viel gefragt und doch versagt.

So war mein Leben.

 

Ich hab auf Sand gebaut und nicht durchschaut, was zu durchschaun war.

Ich hab` dafür bezahlt und noch geprahlt, wenn ich auch schon down war.

Und heute schaue ich zurück. Ob man`s verzeihen kann und vergeben,

dass du das sagen kannst, so leb dein Leben.

 

Denn was wär` ein Mensch, der keiner ist

der nicht als Mensch er selber ist.

Der niemals weint der niemals lacht

die niemals lügt, nie Fehler macht

Der nie gesteht, es ist zu spät

So war mein Leben.

06.02.2015

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